8. August 2023

«Es wird Zeit, auch andere Stimmen zu hören.»

Die Fotografie zeigt eine Frau im Dreiviertelprofil, das sich vor einem dunklen Hintergrund abzeichnet.
Belinda Kazeem-Kamiński. Portrait © Esther Abiona Ono

Interview mit Belinda Kazeem-Kamiński über ihre im kHaus präsentierten Arbeiten.

Danielle Bürgin hat mit der Künstlerin über die vermeintliche Neutralität von Archiven und die Macht,  eigene Bilder und neue Perspektiven zu schaffen, gesprochen.

Während den Kunsttagen Basel sind zwei Ihrer Video-Arbeiten zu sehen: «The Letter» und «Fleshbacks». Erstere basiert auf der Geschichte von Yaarborley Domeï. Sie gehörte zu einer Gruppe von Menschen, die 1896 aus Westafrika nach Wien gebracht und dort zur Schau gestellt wurden. Diese Menschen haben dort in einem Tierpark als Performer:innen den Alltag in einem afrikanischen Dorf nachgestellt. Belinda Kazeem-Kamiński, in Ihrer Arbeit geht es um Erinnerung und an das, was Schwarze Menschen in Europa und spezifisch in Österreich erleiden mussten. Können Sie uns mehr zu den Vorarbeiten zu «The Letter» erzählen?

BKK: «Ich würde sagen, dass die grundlegende Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Buch von Peter Altenberg war. Das Buch heisst ‹Ashantee› und ist 1897 erschienen. Hier beschreibt Altenberg in der Figur des Sir Peters seine Erfahrungen, beziehungsweise Interaktionen mit westafrikanischen Performer:innen. Und ich habe das Buch, als ich 26 Jahre alt war, zum ersten Mal gelesen. Zuvor hatte ich noch nie etwas über diese Zurschaustellung gehört. Und es hat mich sehr lange beschäftigt, weil ich finde, dass dieses Buch an sich sehr problematisch ist. Einerseits wird immer wieder betont, dass Peter Altenberg sich sehr kritisch zu diesen Zurschaustellungen verhält. Gleichzeitig ist er aber auch selbst ein regelmässiger Besucher dieser Schauen, der eben genau diese Infrastruktur ausnutzt, um seine eigenen Exotismen, Rassismen und Sexismen und auch seine Neigung zu minderjährigen Mädchen auszuleben. Und das alles steckt in diesem Text drin.

Der erste Schritt war daher eigentlich, das Buch sehr gründlich zu lesen. Dies führte zu Arbeiten, in denen ich Teile aus dem Buch ausgekratzt habe. Im Endeffekt ist daraus ein Künstlerinnenbuch entstanden, in dem ich aus dem Buch nur das übrig gelassen habe, was für meine Recherche wichtig war. Das sind beispielsweise die Namen von Menschen und bestimmte Worte, die in einer Sprache wiedergegeben wurden, die immer wieder als Fantasiesprache bezeichnet wurde, die aber eigentlich Ga heisst und in Ghana bis heute gesprochen wird. Irgendwann bin ich auf Yaarborley Domeï gestossen, die einen offenen Brief geschrieben hat. Das gab dem Ganzen noch einmal eine andere Komplexität. Ich spreche nicht sehr gerne von diesen Menschen, als verschleppte Menschen, obwohl es solche Fälle auch gab. In diesem Fall jedoch betone ich immer, dass sie tatsächlich Performer:innen waren, denn sie performten Afrikanischsein für ein europäisches Publikum. Dies beinhaltet auch eine gewisse Agency [Handlungsfähigkeit]. Yaarborley Domeï war eine der Performer:innen in einer Gruppe von rund 70 Menschen, und sie hat einen offenen Brief geschrieben. Wahrscheinlich hat sie diesen Brief auf Ga geschrieben. Ihr Mann, der diese Gruppe angeführt hat, hat ihn auf Englisch übersetzt, und die Redaktion [der Zeitschrift Wiener Caricaturen] hat ihn wiederum auf Deutsch übersetzt [und publiziert]. Ich finde an diesem Brief sehr interessant, dass Yaarborley Domeï eine Perspektive artikuliert, die wir heute als intersektional bezeichnen. Sie zeigt die Verschränkungen von verschiedenen Diskriminierungsformen auf und spricht Rassismus UND Sexismus an. Sie erzählt, wie vor allem weisse Männer auf sie reagieren, und sie thematisiert deren Blick. Das fand ich sehr spannend, weil wir wenige Quellen haben, die genau das ansprechen.»

Das Bild zeigt eine weiblich gelesene Person mit Kurzhaarschnitt, schwarzem T-Shirt, schwarzen Hosen und schwarzen Plastikhandschuhen. Die Person steht vor einem modularen, verschiebbaren Archivschrank. Mit einem Handgriff verschafft sie sich gerade Zugang zu einem Archivregal.
Filmstill aus «The Letter» © Belinda Kazeem-Kamiński


Woher kommt Ihr tiefes Interesse an diesen Menschen wie Yaarborley Domeï in Ihrer künstlerischen Arbeit?

BKK: «Ein Ausgangsgedanke bei mir ist immer auch, dass die Gegenwart sehr eng mit der Vergangenheit zusammenhängt, beziehungsweise, dass die Vergangenheit nicht abgeschlossen ist. Das ist ein bisschen eine andere Sicht als eine lineare Timeline. Es geht im Gegensatz dazu darum, diese von Menschen gedachten Abschnitte wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander verschränkt zu denken. Wenn sie alle miteinander verschränkt sind, dann haben sie natürlich eine ganz andere Relevanz. Und wenn ich mich für mein Dasein interessiere, für das, was in meiner Zeit passiert, dann ist es für mich bestärkend, mir anzuschauen, was und wer da schon war; und was deren Erfahrungen waren. Ich sehe das nochmal ganz anders, jetzt, wo viele von uns nicht mehr vereinzelt aufwachsen. Aber für verschiedene Generationen war ja Vereinzelung eine Konstante.

Und dann ist da natürlich diese Frage: Wer war da noch? Was waren deren Erfahrungen und wie sprechen diese Erfahrungen zu meinen Erfahrungen? Auch diese Frage ist bestärkend, weil sie eine Struktur aufzeigen kann. Denn viele Leute verstehen Rassismus und Diskriminierung gerne als ein individuelles Problem. Noch schlimmer ist es natürlich, wenn Betroffene selbst das so sehen – im Sinne von ‹irgendetwas ist an mir falsch, dass mir das passiert›. Wenn ich mir aber ansehe, wie verschiedenste Menschen aus verschiedensten Zeiten in einer weissen Gesellschaft ihre Erfahrungen beschreiben und ich dann diese Common Threads [gemeinsamen Nenner] sehe, dann beginne ich, eine Struktur zu erkennen. Es wäre ja seltsam, wenn an allen als anders imaginierten Personen irgendetwas komisch oder falsch war und ist, und ihre Erfahrungen immer die gleichen waren und sind. Ich finde es wichtig, damit aufzuhören, Diskriminierungen als individuelle Probleme zu sehen. Im Sinne von: ‹Ja, aber wenn du es nicht so ernst und persönlich nimmst oder wenn du dich nicht immer so darauf fixierst, dann würde das nicht immer passieren.› Im Gegenteil lässt sich hier eine Struktur erkennen, die aus einer Welt stammt, in der bestimmte Menschen mit gewissen Privilegien ausgestattet sind. Und um es genauer zu sagen: Das Dasein bestimmter Menschen wird nicht so grundsätzlich hinterfragt, wie das im Leben von Schwarzen Menschen passiert. Unser Dasein wird ununterbrochen hinterfragt: Unser Dasein an einem bestimmten Ort, die Sprache, alles Mögliche wird auf diese Weise entnormalisiert, wird zum ‹Anderen› gemacht, zu ‹Anderen› gemacht. Die strukturellen Aspekte zu sehen hilft im Umgang mit diesen Schieflagen. Gegen Strukturen kann ich arbeiten. Strukturen können geändert werden.»


Passend zu diesem Thema, nun die Frage nach der Location des Archivs, das im Video «The Letter» zu sehen ist. Um welches Archiv handelt es sich genau? Und was interessiert Sie als Künstlerin am Archiv als Institution?

BKK: «Bei diesem Archiv handelt es sich um das Archiv des Weltmuseums Wien, früher Völkerkundemuseum Wien. Genau das war der Ort, an dem ich den Film realisieren wollte, denn dort gibt es auch noch einige Dinge, die wahrscheinlich mit der eingangs genannten Gruppe westafrikanischer Performer:innen in Zusammenhang stehen.

2009 war ich zum ersten Mal in diesem Archiv. Archive sind aus verschiedensten Gründen spannend, aber hauptsächlich eigentlich, weil sich darin eine gewisse Form der Geschichtsschreibung und -erzählung zeigt. Auch hier gibt es oftmals diese unsichtbare Hand, die kuratiert und eine Storyline entwickelt, eine Vergangenheit erzählt, auf die wir in der Gegenwart blicken. Oft so, als hätte sie nicht unbedingt einen Zusammenhang mit dem, was wir jetzt erleben. Mich interessiert es, dieses Dahinter zu zeigen. Also, wie wird etwas zu einem Objekt im Archiv und welche Macht liegt auch in dieser Form der Geschichtsschreibung; in der Möglichkeit, Geschichte(n) überhaupt zu archivieren. Denn es haben ja nicht alle die Möglichkeit, ihre Geschichte(n) zu archivieren.

Es gibt nicht Massen von Briefen wie von Yaarborley Domeï, obwohl Menschen sicherlich auf verschiedene Arten ihre Erinnerungen an solche Zurschaustellungen weitergegeben haben. Wenn wir uns vorstellen, dass wir selbst solche Erfahrungen gemacht hätten, würden wir vermutlich auch mit anderen Menschen darüber sprechen, um das Erlebte irgendwie zu verarbeiten. Es gibt jedoch nicht so viele Archive in denen uns diese Art der Geschichte(n) zugänglich gemacht wird. Daraus ergibt sich dieses Spannungsfeld, das mich am Archiv interessiert: Was ist die hegemoniale Geschichtsschreibung und die Erzählung, die ich da sehen kann, und wie kann ich diese aber auch nutzen, um auf Dinge hinzuweisen, die nicht erzählt werden? Oder anders, wie kann ich die Lücken, die sich in dieser offiziellen Geschichtsschreibung ergeben, für mich nutzen?»

Auf dem Filmstill sind drei Händepaare zu sehen, die sich schwarze Handschuhe überziehen.
«The Letter», Filmstill © Belinda Kazeem-Kamiński


In Ihrer Arbeit «The Letter» hört man zuerst nur eine Stimme, die sagt: «Wir haben deinen Brief gelesen». Der Ausspruch richtet sich an Yaarborley Domeï, die Autorin des Briefes. Danach sieht man drei Personen, die im Archiv akribisch nach Dokumenten und Hinterlassenschaften suchen, und es beginnt eine neue Handlung: Mitten im Archiv wird eine Art Gabentisch mit unterschiedlichen Gegenständen installiert. Zum Beispiel sieht man goldene Erdnüsse, eine goldene Schere, Kerzen und ein pinkes Feuerzeug. Das sind alles Gegenstände, die mich an ein Ritual erinnern; vielleicht ein Heilungsritual. Das Archiv, dieser scheinbar tote Ort, wird, meiner Interpretation nach, beseelt. Es trifft dieses Wissenschaftliche auf das Spirituelle, das Fiktionale oder die Spekulation. Was möchten Sie mit diesem Spannungsfeld bei den Betrachtenden auslösen?

BKK: «Die Arbeit spielt damit, nicht alles zu verraten, in dem sie die Betrachter:innen einlädt, zu schauen, wie und was mit ihnen in Kommunikation tritt. Es ist durchaus meine Absicht, nicht alles von Beginn an offenzulegen. Das Archiv selber sehe ich nicht als einen toten, unbeseelten Raum. Ich finde es jedoch interessant, dass wir ganz oft gerade auf diese Weise über das Archiv nachdenken. In einer ganz naiven Art und Weise würde ich sagen, dass diese Orte eigentlich ganz laut sein müssten, mit all diesen Geschichten, die da drinnen eingesperrt sind und mit all diesen Dingen, die uns etwas erzählen könnten. Wenn sie das könnten, oder wenn wir sie verstehen könnten, oder wenn wir uns die Zeit nehmen würden, mit ihnen in Resonanz zu gehen, dann ist das kein stiller Ort. Im Gegenteil, es ist ein Ort, in dem es wirklich dröhnt, in dem eine Kakophonie an Tönen vorhanden ist. Es ist nicht schön, was ich da höre, wenn ich an diesen Ort denke; es sind sehr viele schrille Dinge, die da passieren. Und auch in meinem Film ist die Soundebene eine ganz wichtige. Wenn man da gut zuhört, dann hört man auch, wie das Archiv an sich klingt, von sich aus schon. Das ist das eine. Die drei Personen im Archiv sind Figuren, die riechen, fühlen und berühren können. Dadurch verbinden sie sich mit Geschichten und mit Dingen, die vor Ort vorhanden sind. Und sobald sie dann beginnen, Laden und Schränke zu öffnen, hören sie ja auch etwas. Und zwar Teile aus diesem Brief, den ich gemeinsam mit Amoako Boafo, einem der Performer:innen im Video, wieder vom Deutschen auf Englisch und Ga zurückübersetzt habe.

Meine Überlegung war, wenn das alles eingesperrt ist, und wir nicht darüber reden können und wollen, was in der Vergangenheit passiert ist, dann braucht es einen anderen Zugang. Und so gehen die drei Empathi:innen ins Archiv hinein und schauen, was mit ihnen ins Tageslicht kommen will. Sie hinterlassen Objekte, die in irgendeiner Form an diese Geschichte erinnern, die quasi Gaben sein können, die aber vielleicht auch Werkzeuge sein können, um aus diesem Archiv herauszukommen.»


Neben «The Letter» wird die dreiteilige Arbeit «Fleshbacks» gezeigt. Der Titel ist eine Verschmelzung der Wörter Flashback und Flesh. Die Arbeit wurde an unterschiedlichen Orten gedreht. Es scheint so, als würden die Protagonist:innen etwas suchen oder verfolgen. Es herrscht Unruhe und ich spüre Trauer und Wut. In dieser Arbeit trifft Wien auf Accra, und die Vergangenheit trifft auf die Gegenwart. Was lernen wir aus diesen Gegensätzen oder auch aus den Verbindungen dieser beiden Welten?

BKK: «Die Arbeit ist eine dreiteilige Annotation zu ‹The Letter›, der damit aufhört, dass diese drei Protagonist:innen aus dem Archiv hinaus gehen und die Tür offen bleibt. Nachdem die Empath:innen gegangen sind, bewegen sich jedoch verschiedene Dinge weiter. In ‹Fleshbacks passiert das, was sich die Empath:innen bereits in ‹The Letter› erhofft haben. Nämlich, dass dieses im Archiv Eingesperrte ans Tageslicht kommt. Nun ist es tatsächlich draussen im Stadtraum und trifft an verschiedensten Orten auf die Empath:innen. Dargestellt sind bestimmte Momente, Fleshbacks. Und Fleshbacks ist, wie Sie bereits sagten, ein Wortspiel. Den Flashback kennen wir: Auf einmal kommt etwas aus der Vergangenheit zu uns zurück. Und das Wort ‹Flesh› bedeutet Fleisch. In meiner Arbeit lasse ich mich auch von Theoriekonzepten inspirieren. Hortense Spillers spricht über die Auftrennung von ‹body› (Körper) und ‹flesh› (Fleisch), die sie im Bezug zu versklavten Menschen analysiert und festgestellt hat. Dabei steht ‹flesh› für den degradierten Teil des Menschen, dem Anteil, mit dem alles gemacht werden konnte, der entmenschlicht, verkauft und verschifft werden konnte. Das sind Dinge, die wir im Zusammenhang mit Versklavung aber auch kolonialen Enteignungspraxen kennen.

In meinem Verständnis ist dieser ‹Fleshback› jener Moment, in dem sich Schwarze Menschen der gegenwärtigen Vergangenheit und auch diese Fleischlichkeit bewusst werden und all dem, was darin eingeschrieben ist: ihrer Geschichte, Degradierung, dem Umstand, dass sie zu Objekten gemacht wurden und weiterhin gemacht werden. Gleichzeitig erinnern diese Momente auch an Community, Zusammengehörigkeit, Widerstand und spezifische kulturelle Artikulationen. Im Video sehen wir diese Momente als Momente, in denen nicht nur die Performer:innen im Hier und Jetzt aktiv sind, sondern auch die Performer:innen aus der Vergangenheit.»

Man sieht also auch Archivbilder von diesen Performer:innen von damals im Film.

BKK: «Genau, es gibt im Wien Museum Fotografien von denen man denkt, dass sie von Peter Altenberg sind, weil man auf einigen Bildern seinen Hut und seine Tasche sieht. Ich habe mir diese Fotos lange und viel angeschaut und habe mich dann entschieden, Teile davon auch in diesem Film zu integrieren. Bei ‹Fleshbacks› und ‹The Letter› wird einmal mehr meine Art zu arbeiten sichtbar: Es tauchen immer wieder Dinge in einer Arbeit auf, die dann auch in einer anderen wieder zu sehen sind. Zum Beispiel ist da die Leiter, da sind die Handschuhe, die auf einmal auf dem Tisch liegen, da ist ein bestimmtes Textil, ein gewisses Detail, das woanders wieder auftaucht, ähnlich wie Echos, die widerhallen.»

Auf dem Filmstill sind zwei Personen zu sehen, die als Frauen gelesen werden können. Links steht eine Frau mit einem karierten Schal über der Schulter. Ihre Hand hat sie auf die Schulter der vor ihr stehenden Frau gelegt. Beide Personen richten ihren Blick direkt auf den oder die Betrachtenden.
«Fleshbacks», Filmstill © Belinda Kazeem-Kamiński


Können Sie uns etwas zur Wahl des Mediums für diese Arbeiten sagen? Also warum arbeiten Sie mit Video und zum Beispiel nicht nur mit Audiokomponenten?

BKK: «Im Wort ‹imaginieren› steckt das englische Wort ‹image› [Bild]. In meiner Arbeit ist es essentiell, zu analysieren und anzuschauen, was war. Aber es ist ebenso essentiell zu imaginieren. Sich zu überlegen, was hätte sein können oder was wäre, wenn? What if? Und sich ein Bild von etwas zu machen, ist eine sehr wichtige Komponente davon. Und gerade für Menschen, die nicht so viele Bilder haben, hat das Bild eine sehr starke politische Kraft. Mit Video kann ich beides machen, dort habe ich dieses Imaginieren im Bild. Ich erschaffe neue Bilder, die eine andere Intention haben als die Bilder, die von irgendwelchen Ethnografen gemacht wurden. Meine Bilder haben ein anderes Interesse an den abgebildeten Menschen. Und gleichzeitig habe ich aber auch den Sound. Sound hat eine Kraft, der sich viele Menschen nicht widersetzen können, selbst wenn wir ihn nicht hören, können wir Sound spüren. Das macht etwas mit uns. Die Besucher:innen sind in den von mir gestalteten Räumen nicht der Fokus, sie sind jedoch eingeladen, anwesend zu sein. Ich spreche dabei jeweils von ‹to be a witness› [Zeuge oder Zeugin von etwas sein] und ‹withness›, also mit-sein. Und withness verstehe ich als: ‹Es ist nicht für Dich, aber Du darfst dabei sein oder damit in Interaktion gehen und schauen, was es mit Dir macht.›»


Unter anderem beschäftigen Sie sich auch mit der Frage der Kuration als antirassistische Praxis. Sie haben darüber ein Buch («Kuratieren als antirassistische Praxis», De Gruyter 2017) geschrieben. Warum ist das im postkolonialen Diskurs, aber auch für Sie als Künstlerin wichtig?

BKK: «Wir leben in einer diversen Gesellschaft, und daher ist es wichtig, Themen aus verschiedenen Richtungen und Blickwinkeln anzusprechen. Museen und Ausstellungshäusern kommt dabei als Bildungsinstitutionen eine wichtige Rolle zu. Die Diversität der Gesellschaft ist ohnehin da, ob ein Grossteil der Menschen das anerkennen will oder nicht. Und diese Unterschiedlichkeit im Hinblick auf soziale Hintergründe, aber auch Herkunft, Privilegien etc. sollte sich auch im Museum und anderen Institutionen widerspiegeln und verschiedenste Sichtweisen, Blickwinkel und Perspektiven in mehrstimmige Erzählungen einfliessen lassen. Einmal mehr muss uns bewusst werden, dass die im Mainstream vorherrschende Geschichtsschreibung von einer bestimmten Klasse von Menschen etabliert worden ist, es wird Zeit auch andere Stimmen zu hören, nicht nur um Vielfältigkeit zu repräsentieren, sondern auch überholte Denkweisen und deren Manifestationen ins Wanken zu bringen. Dies wird natürlich nur dann umgesetzt werden, wenn sich die angesprochenen Institutionen auch auf der strukturellen Ebene, Stichwort Besetzung von Positionen, öffnen.»

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Das Interview wurde am 12. Juli 2023 von Danielle Bürgin geführt.

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Belinda Kazeem-Kamiński ist eine in Wien lebende Autorin, bildende Künstlerin und Forschende. Verwurzelt in Schwarzer feministischer Theorie, arbeitet sie mit einer recherchebasierten und prozessorientierten investigativen Praxis, welche sich mit den Bedingungen Schwarzen Lebens in der afrikanischen Diaspora auseinandersetzt. Dabei verbindet sie verschiedene Räume und Zeiten und widersetzt sich einer klaren Trennung zwischen Dokumentation und Spekulation. Einzel- und Gruppenausstellungen: «Respire (Liverpool)», Liverpool Biennial (9.6.-17.9.2023), «You are awaited but never as equals», Coalmine Winterthur (20.4.-9.7.2023), «Seven Scenes», Camera Austria Graz (2022), «If A Tree Falls In A Forest», Les Recontres d’Arles (2022), Emplotment Museum Ludwig Budapest (2022), KAS Centrale Fies (2022), Einzelausstellung Kunsthalle Wien (2021), «The World Is White No Longer. Ansichten einer dezentrierten Welt», Museum der Moderne Salzburg (2022), u.a. Screenings: International Film Festival Rotterdam, Diagonale, Vancouver International Film Festival u.a. Zu ihren Preisen und Auszeichnungen gehören u.a.: Art X Prize Africa Diaspora (2023), Camera Austria Award (2021), Doc-Grant Austrian Academy of Science (2018-2020), Cathrin Pichler Prize (2018), Theodor Körner Prize for Art (2016).

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