29. Februar 2024

«Durch unhinterfragte Anpassung entstehen ungeschriebene Verhaltensregeln.»

Auf einem Trottoir vor einer verglasten Ladenfront sind sechs Personen zu sehen, die direkt in die Kamera schauen. Die vorderen drei sitzen, die hinteren drei stehen. Es handelt sich um eine Porträt des Kollektivs Hybrid Project Space.
Kollektiv Hybrid Project Space. Foto: © Jana Jenarin / Bebbizine

Das Kollektiv Hybrid Project Space untersucht in seinen öffentlichen Recherche-Prozessen, wer in Kunstinstitutionen willkommen ist und wer nicht. Die Frage nach Diversität und Inklusion in Kunsträumen stand auch im Mittelpunkt dreier Touren während der Kunsttage Basel 2023. Gemeinsam mit einem Host konnten Interessierte die Galerie Stampa, das Kunstmuseum Basel und den Ausstellungsraum Klingental besuchen. Wir wollten von Nahom Mehret und Laura Schläpfer wissen, welche Erkenntnisse auf den Touren gesammelt wurden und welche Motivation hinter ihrer Arbeit steckt.

Mit einem Host und einer Besuchendengruppe habt ihr vergangenes Jahr verschiedene Kunstinstitutionen besucht und im Anschluss gemeinsam diskutiert, wer nicht in diesen Räumen anwesend sein kann. Was waren eure Erkenntnisse und gab es Unterschiede je nach Institutionsart?

LS: «Es wurde schnell deutlich, dass in unterschiedlichen Institutionsarten sowohl unterschiedliche Erwartungen von den Besuchenden, als auch unterschiedliche Verhaltensregeln von Seiten der Institution herrschen. Diese Regeln sind wie unsichtbare Verträge zwischen Institution und Besuchenden, die sich bei einem Ausstellungsbesuch entfalten. Zum Beispiel war deutlich, dass in einer so grossen Institution wie dem Kunstmuseum ein ruhigeres, zurückhaltenderes Verhalten an den Tag gelegt wurde als im Offspace oder der Galerie, wo von Beginn an mehr gesprochen wurde und wo die ausstellende Künstlerin zufällig selbst anwesend war und mit uns aktiv in den Dialog getreten ist. Es wurde uns sehr bewusst, dass unsere Fragestellung, wie Kunst- und Kulturräume diverser und inklusiver werden können, nicht auf alle Institutionen gleichwertig angewendet werden kann. Man muss jeden Ort von Neuem befragen und unterschiedlichste Faktoren, Perspektiven und Erwartungshaltungen miteinbeziehen. Das Ergebnis wird nie nach dem one answer fits all-Prinzip funktionieren.»

Auf dem Foto sind frontal sechs Personen zu sehen, die vor einer weissen Wand stehen oder knien.
This is Not a Guided Tour. Ausstellungsraum Klingental. Kunsttage Basel 2023. Foto: © Hybrid Project Space


Hat es denn einen Einfluss auf die Wahrnehmung einer Institution, wenn man als Besucher:in direkt von einem Menschen empfangen wird wenn die Institution also gewissermassen ein «menschliches Gesicht» aufweist?

NM: «Ja, aber ich würde sagen, es kommt auch darauf an, welche Funktion diese Menschen ausüben und welche Situation sie kreieren. Zum Beispiel hat es im Museum an vorderster Front Menschen mit einer Aufsichtsfunktion. Deren Präsenz hat oft den Effekt, dass man sich als Besuchende:r so verhält, als stünde man unter Beobachtung. Bei unserem Besuch in der Galerie gab es zum Beispiel jedoch keine Aufsichtsperson, was sich direkt auf die Verhaltensdynamik unserer Besuchendengruppe ausgewirkt hat. Die ungeschriebene Regel, sich ruhig zu verhalten, wie sie beim Museumsbesuch deutlich zutage trat, wurde in der Galerie nicht eingehalten und es wurde von Beginn an geredet und diskutiert. Auch innerhalb unserer Besuchendengruppe gab es unterschiedliche Meinungen, welches Verhalten ‹richtig› ist. Alle diese Perspektiven haben wir nach dem Institutionsbesuch in der Gruppe besprochen. Grundsätzlich stellen wir fest: Sobald die ungeschriebenen Regeln gebrochen oder hinterfragt werden, entsteht eine Reibung oder ein Unbehagen. Und dann ist das Wesentliche, wie mit dieser Reibung umgegangen wird.»

LS: «Ausschlaggebend ist, welche Interaktion man mit dem Menschen hat, den man zum Auftakt eines Institutionsbesuchs trifft. Ist es eine Aufsichtsperson, oder wird man zu Beginn gleich zurechtgewiesen, handelt es sich oft nicht mehr um einen Willkommensmoment. Wenn jemand aber aktiv auf einen zukommt, wie es bei unserem Galeriebesuch die Künstlerin getan hat, die auch aktiv dazu animiert hat, ihr Fragen zu stellen, dann kann das die gezeigte Kunst zugänglicher machen, weil man sich dann auch wirklich traut, nachzufragen. Wenn man als Mensch abgeholt wird und in den Räumen willkommen geheissen wird, dann öffnet das den Raum und das setzt für mich auch die Einstiegsschwelle in eine Institution tiefer.»

NM: «Wenn man sich als Besuchende:r beobachtet fühlt, dann funktioniert das wie ein konstanter Reminder, der zu sagen scheint: ‹Sei dir bewusst, wie du dich hier verhältst.› Die Menschen, auf die man vor Ort in einer Institution trifft, geben ein bestimmtes Verhalten vor, welches von Besuchenden oft einfach adaptiert wird. Dieser Adaptionsautomatismus ist besonders ausgeprägt bei Besuchenden, die nicht so oft in Museen unterwegs sind. Durch diese unhinterfragte Anpassung entstehen ungeschriebene Verhaltensregeln oder psychologische Verträge. In der Diskussionsrunde mit der Gruppe gab es dann den Raum, darüber zu reflektieren und es wurde besprochen, woher diese Regeln kommen und was passiert, wenn man ihnen nicht folgt. Wir haben uns gemeinsam die Frage gestellt, wer sich in Kunstinstitutionen nicht willkommen fühlt. Eine Person hat hierzu beispielsweise gesagt, sie könne sich nicht vorstellen mit ihrem Kind in ein Museum zu gehen, weil sie weiss, dass sie dann konstant unter Beobachtung stehen würde, weil das Kind etwas kaputt machen könnte. Sie fühle sich dementsprechend nur ohne Kind willkommen. Ein weiterer Diskussionspunkt war, wessen Erwartungen an Institutionen gehört werden und wessen nicht und ob es Erwartungshaltungen gibt, die legitimer sind als andere.»

Das Foto zeigt einen Raum in gelblichem Licht in dem 11 Personen in einem Kreis sitzen und sich zugewandt sind, sich austauschen. Links ist ein Sofa zu sehen und in der Mitte ist ein Tisch, auf dem Notizen niedergeschrieben sind.
This is Not a Guided Tour. Ausstellungsraum Klingental. Kunsttage Basel 2023. Foto: © Hybrid Project Space


Gibt es Best practice-Beispiele, also Orte, über die ihr sagen würdet, dass dort Inklusion gelebt wird? Oder handelt es sich bei der Vorstellung eines inklusiven Kulturorts noch um eine Vision?

LS: «Diese Frage wird uns immer wieder gestellt und ich würde sagen, es gibt positive Entwicklungen. Zum Beispiel bei Ausstellungshäusern, die anfangen, Diversität und Inklusion stärker zu thematisieren oder die von Beginn an verschiedene, diverse Perspektiven in die Planung ihrer Aktivitäten miteinbeziehen. Das ist ein wichtiges Merkmal und schon ein erster Schritt, dass man nicht über andere Perspektiven entscheidet, sondern mit ihnen und betroffenen Personen auch eine Plattform bietet. Aber grundsätzlich engagieren wir uns schon, weil es noch zu wenige solche Bestrebungen gibt.»


Wen erreicht ihr mit eurer kollaborativen Recherchearbeit? Gibt es auch Personen, deren Stimmen ihr wichtig fändet, die aber nicht an euren Angeboten teilnehmen?

NM: «Bei den Rundgängen an den Kunsttagen war sehr gut sichtbar, dass je nachdem, wer der Host der Tour war oder wohin die Tour führte, sich auch die Besuchendengruppe spezifisch unterschiedlich zusammengesetzt hat. Die Tour in den Offspace mit dem jungen Studenten Subeer Ismail als Host zog andere Leute an, als die Tour durch das Kunstmuseum mit Va-Bene Elikem Fiatsi, an der viel mehr Personen mit akademischem Hintergrund teilnahmen. Diese Zusammensetzung hat auch die jeweilige Diskussion nach den Institutionsbesuchen beeinflusst und welche Perspektiven und Lebensrealitäten darin einbezogen wurden und welche eben nicht.»

LS: «Unsere Erfahrung bisher ist schon: Es nehmen vor allem Menschen an unseren Angeboten teil oder fragen uns für eine Zusammenarbeit an, die sich schon vorher für das Thema Inklusion interessiert haben. Wir sind noch am Herausfinden, wie wir auch Menschen, die zum Beispiel gar nie in ein Museum gehen, weil sie denken, sie hätten gar nicht das Wissen, um sich mit den dort gezeigten Sachen auseinanderzusetzen, einbeziehen können. Aber die Fragen von Diversität und Inklusion betreffen so viele Untergruppen, dass man nie alle ansprechen kann; das wäre auch ein sehr hochgestecktes Ziel.»

NM: «Wir haben festgestellt, dass das Hosten ein sehr wichtiger Faktor ist, um die Menschen für die Auseinandersetzung mit unseren Fragestellungen abholen zu können. Durch Willkommensgesten und das persönliche Begleiten fällt es ihnen leichter, an Prozessen teilzunehmen und ihre Meinung einzubringen.»

LS: «Genau, der menschliche Faktor ist wichtig. Deshalb gehören zu unseren Hauptherangehensweisen einerseits das Hosten, also eine Willkommenskultur schaffen, und andererseits das gemeinsame Hinterfragen des Status quo im Austausch. Wir treten dabei nicht als Expert:innen auf, die die Antworten liefern, sondern wir sehen die Diskussion als einen gemeinsamen Prozess an, während dem auch Gefühle ausgesprochen und Unbehagen geäussert werden darf.»

Eine Person, deren Gesicht nicht erkennbar ist, hält in der linken Hand ein kleines Büchlein auf dem die Frage zu erkennen ist: Do you know anybody in the room? Mit der rechten Hand schreibt die Person mit Bleistift etwas auf die gegenüberliegende Seite.
This is Not a Guided Tour. Ausstellungsraum Klingental. Kunsttage Basel 2023. Foto: © Hybrid Project Space


Mit «This is Not a Guidebook» habt ihr eine kleine Publikation erarbeitet mit Fragen und Anweisungen zur Befragung von Kunsträumen. Dieses Booklet kann man ohne Hosting nutzen. Wie fallen die Rückmeldungen der Nutzer:innen hierbei aus?

LS: «Bei unseren gehosteten Formaten ist die Unmittelbarkeit sicher ein zentraler Moment. Aber wir bekommen schon immer wieder, zum Teil auch sehr ausführliche, Reaktionen auf das This is Not a Guidebook-Booklet und zwar von Leuten, die sich Zeit genommen und sich damit auseinandergesetzt haben. Das gibt uns auch immer wieder Motivation und das Wissen, dass die Fragen, die wir stellen, relevant sind, die Leute abholen und ein Austausch dazu erwünscht ist.»


Gibt es Erkenntnisse aus eurem Recherche-Prozess, die euch komplett überraschen?

NM: «Mich überrascht die Menge an unterschiedlichen Erwartungen und Bedürfnissen an Kulturinstitutionen. Deswegen ist es auch schwierig, das Thema zu vereinfachen und zu definieren, wie genau man eine Institution zugänglicher gestalten kann. Aber das Wichtigste ist, dass trotz dieser Komplexität die Bereitschaft zum Verhandeln und zur Diskussion da ist, das ganze anzugehen und auch Unbehagen mitzutragen.»


Wem wollt ihr eure gesammelten Erkenntnisse zur Verfügung stellen?

LS: «Unsere Erkenntnisse haben wir gemeinsam mit vielen anderen erarbeitet und die Ergebnisse sollen in jedem Fall gratis, niederschwellig und möglichst vielen zugänglich sein; ob auf einer Website oder in einer Publikation. Das Finden der passenden Präsentationsformate ist ebenfalls ein Prozess und es motiviert uns zu wissen, dass wir noch Arbeit vor uns haben.»


Was ist eure persönliche Motivation, euch ehrenamtlich für das Thema Inklusion und Diversität in der Kultur zu engagieren und für wen engagiert ihr euch?

NM: «Eine starke Motivation von mir war die Erkenntnis, dass ich nicht alleine bin mit diesen Fragen. Also dass sich sehr viele Menschen Gedanken zur Inklusion machen und sich die gleichen Fragen stellen, wie ich mir. Die Arbeit im Kollektiv Hybrid Project Space bietet die Möglichkeit, das Thema wirklich anzugehen und dafür einen Raum zu schaffen. Aus unseren Recherchen ziehen wir immer wieder spannende Erkenntnisse, die wir dann gemeinsam weiterverfolgen und die eine Entwicklung der Auseinandersetzung mit sich bringen. Diese Form der Auseinandersetzung ist für mich nachhaltiger, als nach einer Vernissage, an der das Thema Inklusion aufflammt, stundenlang darüber zu sprechen, um es danach doch wieder fallen zu lassen.»

Herzlichen Dank für das Interview.

19. Februar 2024

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hybridprojectspace.com

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HYBRID PROJECT SPACE ist ein Kollektiv von Personen aus den Bereichen Museumswissenschaft, Kuration, Medienproduktion, Kunst, Architektur und Grafikdesign. Das Kollektiv führt gemeinsam mit der Öffentlichkeit eine Diskussion darüber, wie Kunst- und Kulturräume inklusiver und diverser werden können. Im Kern des Recherche-Prozesses stehen Fragen rund um Diversität und Zugänglichkeit, die mit einer Vielstimmigkeit und interdisziplinären Perspektiven bearbeitet werden.

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