Wo Kunst und Kritik aufeinandertreffen
Die Plattform «Art of Intervention» führt im Rahmen der Paula Rego-Ausstellung mehrere öffentliche Veranstaltungen im Kunstmuseum Basel durch. Wir haben mit Dominique Grisard gesprochen und sie gefragt, wie es momentan um gesellschaftskritische Kunst steht und welche Themen aus dem Werk von Paula Rego sie besonders beschäftigen.
“Can political and socio-critical art ‘survive’?”, fragt Martha Rosler in einem Artikel von 2010. Das Projekt Art of Intervention nimmt diese Frage als Ausgangspunkt für seine Aktivitäten. Dominique, was ist Art of Intervention und wieso seht ihr die von Rosler genannte Kunst überhaupt in Gefahr?
DG: Art of Intervention wurde gestartet, als das Kunstmuseum Gegenwart 2018 die Ausstellung <War Games> von Martha Rosler und Hito Steyerl zeigte. Zu diesem Zeitpunkt sahen wir nicht nur die gesellschaftskritische Kunst in Gefahr, sondern stellten auch fest, dass in den Wissenschaften Kritik eigentlich nicht gern gesehen ist. Daraus entstand die Idee, mit Veranstaltungen Räume zu schaffen und auszuloten, in denen sehr nuancierte Kritik und Zwischentöne möglich sind und verschiedene Institutionen, Personen und Gruppierungen in den Austausch miteinander gelangen. Für die Ausstellung <Fun Feminism>, ebenfalls im Kunstmuseum Gegenwart gezeigt, haben wir dann die Leitfrage umgemünzt auf <Kann feministische Kunst überleben?> und dazu Veranstaltungen an der Universität Basel und im Kunstmuseum angeboten.
Wir üben auch immer wieder Selbstreflexion und Selbstkritik, weil wir selber natürlich auch aus bestimmten Kontexten kommen, die bestimmte Sichtweisen mit sich bringen. Unser Ziel ist es aber, immer wie inklusiver und diverser zu werden. Grundsätzlich geht es uns darum, Prozesse und Dynamiken zu entwickeln, wie man Kunst- und Kulturbetriebe offener gestalten kann. <Intervention> bedeutet für uns dabei denn auch nicht, einen Bruch herzustellen, sondern uns zu verbinden und Brücken zu schlagen im Sinne einer gemeinsamen Wissensproduktion.»
Muss Kunst für Dich aktivistisch oder gesellschaftskritisch sein, damit sie gut ist?
DG: «Es ist nicht so einfach festzulegen, was <gute> Kunst ausmacht. Aber die Qualitäten werden doch sehr oft ganz traditionell ausgelegt. Zum Beispiel, dass die Person hinter der Kunst einem Genie gleichkommen muss, das sich ausschliesslich der Kunst widmet und nichts anderes daneben macht. Die Vorstellung des Künstlergenies ist ein Ideal, dem fast niemand entspricht. Kunst muss für mich aber weder gesellschaftskritisch sein noch so gemeint sein; für mich ist das Schöne an der Kunst eben genau, wenn sie unterschiedliche Lesarten zulässt. Im Kontext unserer Arbeit mit Art of Intervention ist es aber natürlich schon die Tendenz, dass wir Ausstellungen wählen, die sich implizit oder explizit kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzen.
Und zurzeit gibt es sehr viel gesellschaftskritische Kunst. Nur deren Sichtbarkeit ist oft von der Frage abhängig, was momentan überhaupt thematisiert werden <darf> und wo die Grenzen davon sind - in Teilen wird das auch vom Markt bestimmt, der dann gewisse Trends setzt beziehungsweise für sich vereinnahmt und vereinfacht.»
Aktuell bietet ihr Veranstaltungen an, die sich mit Themen auseinandersetzen, die in der Paula Rego-Retrospektive im Kunstmuseum Basel zu sehen sind. Um welche Themen handelt es sich und wie sind eure Veranstaltungen aufgebaut?
DG: «Wir freuen uns, dass wir vom Kunstmuseum eingeladen wurden und sowohl im Katalog mit Textbeiträgen als auch mit Programm vor Ort im Neubau präsent sein können. Denn Paula Regos Werk trägt viele Themen in sich, die uns aus queer-feministischer Perspektive beschäftigen. So hat Rego beispielsweise zu Abtreibung, sexueller Gewalt, Familie, Krieg, Diktatur, Kolonialismus und Geschlechterverhältnissen in Paarbeziehungungen gearbeitet. Dabei bricht sie dezidiert mit Tabus, arbeitet jedoch auch oft mit Ambivalenzen, die Zwischentöne aufzeigen. Alle unsere Veranstaltungen dieser Serie bauen auf Vielstimmigkeit auf und beinhalten performative Elemente sowie wissenschaftliche, künstlerische und aktivistische Stimmen.
Der erste Event drehte sich um das Thema Abtreibung, die immer wieder auf dem Prüfstand steht und nicht als garantierte Errungenschaft gelten darf, auf der man sich ausruhen kann. Im Ausstellungskatalog sind unter anderem verschiedene literarische Texte versammelt, darunter einer der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, die das Thema Abtreibung unter einer Klassen- und Geschlechter-Perspektive verhandelt. Der Text wurde am ersten Art of Intervention-Event als szenische Lesung vorgetragen und mit einem politisch motivierten Vortrag von Franziska Schutzbach kombiniert. An diesem Veranstaltungsabend wurde deutlich, dass die Diskussion auf aktivistischer Ebene sehr ausgeprägt ist, es jedoch rund um persönliche Betroffenheit doch noch sehr viele Tabus gibt und vieles unsagbar bleibt. Kunst kann gerade hierbei viel ermöglichen, wenn man zum Beispiel die in der Ausstellung zu sehenden <Abortion Pastels> von Rego heranzieht, die das Thema aufgreifen, ohne herkömmliche Muster zu verwenden.
Am nächsten Veranstaltungsabend nehmen wir die märchenhaften Bilder von Rego als Ausgangspunkt, um über symbolische Gewalt zu sprechen. Zu Gast sein werden Brandy Butler und Rahel El--Maawi, die sich beide sehr stark mit Kindermedien auseinandersetzen und damit, wieso symbolische Gewalt oft unsichtbar bleibt.
Und am letzten Abend zum Thema sexueller Gewalt wird unter anderem das Theater Niemandsland dabei sein, deren Vorführung auf einer persönlichen Erfahrung mit dem Thema eines Ensemble-Mitglieds basiert. In einem anschliessenden Gespräch mit Agota Lavoyer und Markus Theunert sowie einer Tanzperformance werden Männlichkeit und Männlichkeitsbilder thematisiert.»
Regos Hintergrund bezieht sich auf ihr Heimatland Portugal und verschiedene spezifische geschichtliche Ereignisse, wie die Diktatur und die Kolonialkriege, und gesellschaftliche Gegebenheiten. Lassen sich diese einfach auf den Schweizer Kontext übertragen?
DG: «Rego hat die meiste Zeit ihres Lebens in England gearbeitet, also aus sicherer Distanz zu der Diktatur im Heimatland. Aber ja, mit unseren Veranstaltungen verorten wir ausgesuchte Themen im Schweizer Kontext und verknüpfen sie mit den aktuellen, hiesigen Debatten. Auch wenn die nationalen Geschichten anders sind, sind die Unterschiede nicht immer so gross, wie man vielleicht denken würde: In der Schweiz wurde beispielsweise die Abtreibung auf nationaler Ebene erst 2002 eingeführt, in Portugal 2007.»
Hat sich Paula Rego als Aktivistin oder Feministin identifiziert oder empfand sie dies als einseitigen Stempel?
DG: «Rego verknüpft historische Begebenheiten aus der portugiesischen Geschichte mit Szenen aus ihrem eigenen Alltag, und verbaut so die Geschichte des Landes mit zwischenmenschlichen Begebenheiten, beziehungsweise den Dingen, mit denen sie sich selbst auseinandersetzen musste und die sie selbst erfahren hat, wie Gewalt, Abtreibung und Konflikte in den Geschlechterverhältnissen. Für sie war es sicherlich existentiell, diese Themen durch ihre künstlerische Ausdrucksweise zu verarbeiten.
Als feministische Künstlerin mit aktivistischen Zielen hat sie sich jedoch vermutlich nicht gesehen, aber durch ihr Kunstschaffen machte sie sich handlungsfähig und prägte feministische Debatten mit. Einmalig hat sie sich dezidiert in die Abstimmungsdebatte zur Abtreibung in ihrem Heimatland Portugal eingebracht und in diesem Zuge auch die bekannten <Abortion Pastels> erstellt. Die Wirkmacht ihrer Bilder und deren Potenzial waren ihr wahrscheinlich also schon bewusst.»
Welches Werk in der Ausstellung hat Dich besonders beeindruckt?
DG: «Sehr beschäftigt hat mich das Bild <The Family>, das sich grösstenteils um Gewalt dreht und diese mit grossen Uneindeutigkeiten darstellt. Der Mann auf dem Bett wird von zwei Frauen umstellt, die sich an ihm zu schaffen machen. Es ist nicht einfach eine Täterumkehrung, in der die Frau zur Täterin wird, sondern die im Schlafzimmer gezeigte Szene ist viel ambivalenter und es wird nicht eindeutig klargestellt, was die zu sehenden Frauen mit dem Mann machen. Auf der Kommode im Hintergrund sind ausserdem zwei dekorative Szenen zu sehen, die symbolische Gewaltszenen zwischen männlichen und weiblichen Figuren aufzeigen. Interessant in Regos Sprache ist ja, dass es selten einfach um die Umkehrung von Macht geht, sondern oft sind es die titelgebenden <Machtspiele>, die zu sehen sind. Dabei verfällt die Künstlerin aber nie in eine Romantisierung von Gewalt, sondern diese wird benennt und sichtbar gemacht.
Zu ihrem Mann hatte Rego eine komplexe Beziehung. Nach seiner Erkrankung an Multipler Sklerose hatte sie ihn bis zu seinem Tode gepflegt und betreut. Vielleicht sind die Personen auf dem Bild also Ehemann, Ehefrau sowie Töchter. Und vielleicht ist es genau dieses Element von Care, das im <Family>-Bild angesprochen wird und mehrere Dimensionen, von Sorgearbeit bis Gewalt, eröffnet.»
Oktober 2024
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Dominique Grisard kuratiert gemeinsam mit Andrea Zimmermann die Plattform Art of Intervention, die sich an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst, Politik und Aktivismus mit gegenwärtigen Debatten zu gesellschaftlichen Verhältnissen und insbesondere Geschlechterverhältnissen auseinandersetzt.
Kunstmuseum Basel | Neubau, Paula Rego. Machtspiele, 28. September 2024 bis 2. Februar 2025.